Beirat befürwortet eine fahrradfreie City, boykottiert aber Teilnahme an Aktionswoche
Manche Stadtratsbeschlüsse durchwandern monatelang die Gremien, bis sie abschließend behandelt werden. Wenn am 27. April der Stadtrat wieder im Volkshaus tagt, gibt es erneut eine Beschlussvorlage, die eine lange Geschichte hat. Ursprünglich reichte die bündnisgrüne Fraktion eine Beschlussvorlage ein, die eine Beteiligung an der Europäischen Mobilitätswoche vorsieht. Mittlerweile haben sich die Linken der Sache angeschlossen.
Vom 16. bis zum 22. September gibt es Veranstaltungen rund um die Mobilität. Die Initiative kam von der EU-Kommission und wird in diesem Jahr zum 20. Mal veranstaltet. Eines der Ziele ist es, den ÖPNV bekannter zu machen und gleichzeitig Alternativen zum eigenen Auto zu zeigen. So sperrt man Innenstadtparkplätze und Straßen, aber gleichzeitig werden Busse und Straßenbahnen für kostenfreie Fahrten angeboten. In Jena soll in der Mobilitätswoche für „Werbung für nachhaltige und barrierefreie Mobilität, Multimodalität, neue Formen der Logistik und Sharing, für Verkehrssicherheit und mehr Aufenthaltsqualität sowie die Diskussion neuer Verkehrskonzepte als auch die Präsentation von Forschungsergebnissen, Vorhaben der Stadtentwicklung und Vorschlägen für Klima- und Lärmschutz“ angeboten werden. „Dazu soll es Probefahrten, Workshops und zahlreiche Mit-Mach-Aktionen (…) geben.“, wie es in der Beschlussvorlage als Zielstellung heißt. An diesem Tag soll der ÖPNV in Jena kostenfrei sein und zum Beispiel Pop-up-Radwege erprobt werden. Neben den Kosten für die Tickets, Werbung für P+R-Parkplätze, Stände und dergleichen veranschlagen die einreichenden Fraktionen ab 2023 30.000 Euro im Jahr.
Neben dem Stadtrat gibt es auch Ausschüsse, die Beschlüsse und Berichte beraten, zum Teil auch abschließend. Diese Ausschüsse werden im Proporz der im Stadtrat vertretenen Parteien vergeben, bilden somit auch den Stadtrat ab. Für Beiräte gilt das nicht. Diese können beraten, eigene Anträge stellen, haben auch – wenn es das Gremium genehmigt – auch ein Mitspracherecht. Dieses Mitspracherecht nahm jetzt nicht der Fahrradbeirat oder der Kfz-Beirat wahr, auch nicht der Seniorenbeirat, sondern der Beirat für Menschen mit Behinderung. Dieser nahm Stellung und erklärte, dass die Menschen mit Behinderung von einem Tag der Mobilität ausgeschlossen wären und boykottierten diesen auch schon im letzten Jahr.
So fordert der Beirat:
„Im Bereich des inneren Grabenringes sind an diesem Tag alle Fußgängerzonen für die Fußgänger reserviert. Die Schilder ‚Rad Frei‘ in den Jenaer Fußgängerzonen sind für diesem Tag ungültig zu machen.“ Da es sich um einen Radweg mit überregionaler Anbindung (Thüringer Städtekette) handelt, bedarf es größerer Anstrengungen und Absprachen, als es ein einfaches Abkleben bedeuten würde.
Neben dieser Petitesse geht der Beirat mit den antragstellenden Fraktionen hart ins Gericht:
„Eine Wende hin zu weniger CO2-Ausstoß und mehr Nachhaltigkeit ist zu begrüßen. Jedoch muss Wissenschaft und nicht Ideologie diesen Weg weisen. An einem autofreien Tag werden all die Menschen außen vorgelassen, die auf ihr eigenes Auto angewiesen sind, egal ob Verbrenner oder E-Mobilität. Zu nennen sind hier Menschen mit Behinderung und mobilitätseingeschränkte Menschen. Menschen mit Behinderung(en) können i.d.R. nicht einfach auf den ÖPNV umsteigen oder mit dem Rad fahren, um von der Wohnung in die Innenstadt zu kommen. Sie werden an diesem Tag ausgegrenzt. In der Begründung des aktuellen Antrages steht zu diesem Problem zwar ein Hinweis, der jedoch nicht mit konkreten Aktionen untersetzt und damit nur als Alibi zu verstehen ist.
Die Ergänzung eines 004 würde den Fußgängern ermöglichen, die Innenstadt zu nutzen, ohne ständig über die Schulter schauen zu müssen, ob ein Radfahrer kommt, der nicht weiß, wie er sich in einer ‚Rad frei‘-Fußgängerzone zu verhalten hat. Nämlich
Schrittgeschwindigkeit und ggf. sogar absteigen und schieben. Es wäre eine signifikante Verbesserung der Verkehrs- und Fußgängersicherheit und natürlich der Aufenthaltsqualität in der Jenaer Innenstadt.
Perspektivisch muss eine ‚Rad freie‘ Innenstadt ein Ziel für die Stadtentwicklung sein, denn die Stadt gehört allen.
Der Beirat für Menschen mit Behinderung hat sich in 2021 bewusst gegen die Teilnahme am ‚Autofreien Tag‘ entschieden. Solch ein Tag widerspricht unserem Ziel nach Inklusion und Teilhabe.“
Neben der – vielleicht – berechtigten Kritik am Verhalten von Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrern zum Beispiel in der Johannisgasse hätte der Beirat die Möglichkeit gehabt, Inklusion und Teilhabe mit guten Beispielen darzustellen. Aber, wer nicht da ist, wird auch nicht gehört.
Hier finden Sie die aktuelle Beschlussvorlage zur Europäischen Mobilitätswoche:
Hier finden Sie die Empfehlung einer Änderung/Ergänzung in der Beschlussvorlage Nr. 21/1166-BV (Autofreier Tag) des Beirates für Menschen mit Behinderungen: