Am 28. August 2020 traf der Verfassungsgerichtshof des Saarlands eine Entscheidung über Corona-Maßnahmen (Lv 15/20). Auf S. 29 der Entscheidungsbegründung findet sich eine bemerkenswerte Passage, die das Verhältnis von Exekutive und Legislative berührt:
„Das Erfordernis einer parlamentarischen gesetzlichen Grundlage ist auch keine verzichtbare bloße Formalität. Während Verordnungen wie jene zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, bis zur ihrer Veröffentlichung im Wesentlichen im Internum der Exekutive erarbeitet, beraten und beschlossen werden, und Bürgerinnen und Bürger damit vor die vollendete und geltende Regelung gestellt werden, gewährleistet ein parlamentarisches Gesetz die Debatte von Für und Wider vor dem Forum der Öffentlichkeit und damit ein wesentliches Element der repräsentativen Demokratie. Daher mag in einer Notsituation, in denen kurzfristiges Handeln einer Regierung zwingend erscheint, die Verordnung auf der Grundlage einer hinreichend bestimmten Ermächtigung ein notwendiges und wichtiges Instrument der Staatsleitung sein. Je länger grundrechtliche Belastungen von Bürgerinnen und Bürgern indessen andauern, desto wichtiger wird es indessen, die Regelung ihrer Grundlagen und Grenzen dem ohnehin originär verantwortlichen parlamentarischen Gesetzgeber zu überlassen.“
Vor wenigen Tagen wandte sich Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble an die Fraktionen und mahnte angesichts der aktuellen öffentlichen Debatte an, „dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss, um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative“. Darüber hinaus hat er eine Expertise erarbeiten lassen, „wie durch den Bundestag Bundeseinheitlichkeit und Rechtssicherheit aller Maßnahmen verbessert werden können“.
In dieser Ausarbeitung werden Maßnahmen vorgeschlagen, die nicht nur der Stärkung des Bundestages gegenüber der Bundesregierung dienen, sondern sowohl dazu beitragen sollen, den Spielraum der Landesregierungen einzuschränken und vereinheitlichende Wirkungen zu erzielen, als auch dadurch der verfassungsrechtlichen Kritik am geltenden Corona-Regelwerk Rechnung zu tragen.
Als Ministerpräsident des Freistaates Thüringen halte ich diese Diskussionsbeiträge für unverzichtbar und meine, dass in diese Debatte auch die Rolle der Ministerpräsidentenkonferenz einbezogen werden muss.
Zur Erinnerung: Die Ministerpräsidentenkonferenz entstand vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, dort wurde die Bildung des Parlamentarischen Rates zur Erarbeitung des Grundgesetzes beschlossen.
Als Selbstorganisation der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder nimmt die MPK in der laufenden Pandemiebewältigung eine wichtige strukturierende Aufgabe wahr. Diese Aufgabe darf sie jedoch nicht überstrapazieren. Die MPK muss sich im Hinblick auf die Stärkung der Legislative bei der Pandemiebewältigung ihrer Funktion und den Grenzen ihrer Kompetenzen bewusst sein.
Wer wie ich dem Bundestagspräsidenten ausdrücklich darin zustimmt, durch das Parlament konkrete Ermächtigungsgrundlagen für besonders eingriffsintensive Maßnahmen wie z.B. Ausgangssperren, Kontaktverbote und die Verhängung eines sogenannten Lockdowns, ob „soft“ oder nicht, zu schaffen, kann nicht weiterhin mit einer Verfahrensweise in der Ministerpräsidentenkonferenz einverstanden sein, in der äußerst kurzfristig eingebrachte Beschlussvorlagen mit solchen besonders eingriffsintensiven Maßnahmen verhandelt und beschlossen werden sollen. Ich habe in der Vergangenheit in einzelnen Fällen mit Protokollerklärungen reagiert, um die Handlungsfähigkeit der Ministerpräsidentenkonferenz zu gewährleisten und weil die Solidarität sowie Kollegialität der Regierungschefinnen und Regierungschefs untereinander mir ein Anliegen ist.
Ich habe deshalb heute in der Kabinettsitzung die Mitglieder meiner Regierung und die Vorsitzenden der Koalitionsfraktionen darüber informiert, dass ich einer Lockdown-Beschlussfassung in der MPK aus den dargelegten grundsätzlichen Erwägungen nicht zustimmen werde.
Mit den Worten des saarländischen Verfassungsgerichts: „Ein parlamentarisches Gesetz (gewährleistet) die Debatte von Für und Wider vor dem Forum der Öffentlichkeit und damit ein wesentliches Element der repräsentativen Demokratie.“
Darüber hinaus werde ich in meinem Bestreben, dem föderalen Charakter unseres Gemeinwesens – dessen Ausdruck eben auch die Ministerpräsidentenkonferenz ist – dadurch Rechnung zu tragen, dass weiterhin die lokale Entwicklung Grundlage für Entscheidungen der Pandemiebekämpfung ist, vom Wissenschaftlichen Beirat zum Corona-Pandemiemanagement der Thüringer Landesregierung unterstützt, der in seiner Expertise ausführt:
„Bei einem Lockdown werden eher kurze und lokal beschränkte Regelungen bevorzugt. Dabei zeigen die im Rahmen von COSMO befragten Personen, die in einem aktuellen Ausbruchsgebiet wohnten, tendenziell eine größere Bereitschaft, sich wieder einzuschränken, als Personen aus Gebieten, in denen es keinen solchen größeren Ausbruch gab. Stabil seit vielen Wochen ist die Zustimmung von ca. 60 % der ca. 1000 Befragten für die Regelung, bei erhöhtem Ausbruchsgeschehen (35-50 Fälle pro 100.000 Einwohner/Landkreis) lokale Maßnahmen zu ergreifen; 70 % sind in dieser Situation bereit, sich wieder einzuschränken.
Generell lässt sich sagen, dass kleinteilige einschränkende Lösungen vor großflächigen Lockdowns bevorzugt werden. Es sollte erwogen werden, für Gebiete mit größeren Ausbrüchen einheitliche Regelungen zu finden. Die Maßnahmen von vor dem 6.05.2020 sind gut akzeptiert und die Bevölkerung ist auch bereit, diesen Schritt erneut zu gehen, sofern die Situation dies erfordert.“
Das Thüringer Kabinett hat in seiner heutigen Sitzung die Sachlage und mögliche Konsequenzen ausführlich diskutiert. Das Kernkabinett hat anschließend einen Beschluss gefasst, der diese Haltung einmütig unterstützt.